Träume… (Kapitel 5)

George war es egal, dass sie sich immer weiter vom Zirkus entfernte. Sie wusste ja, dass Tim sowie Lucky ihn wieder aufspüren würden. Ihre Gedanken waren ganz woanders, sie ließ Sammy einfach galoppieren. Denn Sammy wollte galoppieren, den ganzen Vormittag an dem Wagen angebunden zu sein war für ihn einfach nur schrecklich langweilig und ermüdend gewesen.
George dachte an die Geschwister.
„Ach wenn sie doch nur hier wären…“, meinte sie leise und Trauer schwang in ihrer Stimme mit. „Sie hätten mir geholfen. Sie hätten mich verstanden… Aber Joy und Luy haben alle kaputt gemacht!“
Lucky bellte.
„Zum Glück seid ihr da“, kurz lächelte das Mädchen, aber das Lächeln verschwand sehr schnell wieder.
Sie spürte das Verlangen nach Unterstützung. Und sie wusste, wenn sie zurückkehren würde, bekäme sie Ärger. So oder so, egal wie lange sie weg blieb. Außerdem hatte sie eh keinen Hunger, also machte es nichts, wenn sie zu spät zum Mittagessen kommen würde. Sie hatte ja noch etwas von ihrer Mutter in ihrem Rucksack eingepackt bekommen, wenn sie also später Hunger haben würde, hätte sie etwas.
„Sammy, wohin reiten wir?“, fragte sie jetzt neugierig. Das Pferd wieherte. George sah nach vorne. Und sie erkannte den Wald von Marlem. „Der Wald“, flüsterte das Mädchen. „Gut gemacht, Sammy.“
George war gerne im Wald. Dort war es ruhig und sie konnte in Ruhe nachdenken. Außerdem hörte man meistens im Hintergrund die Vögel singen. Und das beruhigte ihre Nerven, die gerade blank waren. Sammy fiel in den Trab und tänzelte durch die Bäume. George schloss die Augen und zog die Düfte des Waldes ein. Sie lauschte den leisen Geräuschen der Tiere und dem dumpfen Hufgetrappel von Sammy. Sie hörte, wie Lucky und Tim hechelten. Sie hörte das Pochen der vier Herzen: Tims, Luckys, Sammys und das von ihrem eigenen.
Sie spürte, wie Sammy durchparierte und öffnete ihre Augen. Sie glitt von seinem Rücken und sah sich die Lichtung genauer an, auf der sie sich nun befand. Alles war bunt. Überall prangten die Blüten des Sommers. Hier roch es wirklich gut. Und Sammy senkte sogleich seinen Kopf und begann damit, die leckeren Blüten zu zerrupfen.
George klopfte ihm den Hals. „Danke.“
Sie wusste, warum er sie hierher gebracht hatte. Denn diese Lichtung erinnerte sie an die Lichtung im Felsenwald, wo sie mit ihren vierbeinigen Freunden oft war. Wo sie viel Zeit gemeinsam verbrachten. Dies war für sie immer der Ort gewesen, wo sie frei sein konnte, wo sie George sein konnte. Und zwar wirklich George, kein schlechtgelauntes Mädchen, nein. Dort war sie immer wie ausgewechselt. Ruhig, gutgelaunt, entspannt.
Und so war sie nur ein paar Mal gewesen. Hier auf dieser Lichtung und…manchmal bei der Gegenwart der Geschwister. Wieder spürte sie die Leere in sich. Diese beklemmende Leere, die man hatte, wenn man sich einsam fühlte, einsam und verlassen.
George legte sich auf die Wiese und schloss erneut die Augen. Sie merkte, wie sich Lucky rechts von ihr an sie kuschelte und Tim links von ihr. Sie spürte die Wärme ihrer Freunde. Aber ihre Gedanken flogen fort. Fort zu ihrem Abenteuer mit den Geschwistern. Julius, Richard und Anne…

Sie erinnerte sich gerne an dieses Abenteuer. Und durchträumte oft die schönsten Momente. Auch jetzt träumte sie wieder davon. Da war der Anfang, als sie die Geschwister zum ersten Mal richtig gesehen hatte. Im großen Luftkissenboot der Wasserschutzpolizei, als man sie von der Insel geholt hatte.
Oder als sie mit den Geschwistern auf dem Reiterhof gewesen war. Sie wusste noch ganz genau, dass sie mit Absicht den Spring-Parkur geritten war. Sie hatte die Geschwister unbedingt beeindrucken wollen und Sammy und ihr hatte es auch riesen Spaß gemacht. Sie würde das Gefühl niemals vergessen, wenn sie ein Hindernis übersprang.
Sie durchlebte ihre Entführung von Michi, Steve, Richie und Ben. Als sie an dem Turm runtergeklettert war und beinahe gefallen wäre. Wie sie über den Zaun sprang und die ganze Nacht gelaufen war, bis ein Polizeitrupp sie gefunden hatte. Wie sie ganz stolz ihre Geschichte erzählt hatte und glücklich gewesen war, als Julius, Richard und Anne sie bewundernd angesehen hatten.
Oder als sie von den sechs Hunden des neuen Bewohners aus dem Felsendorf angegriffen wurde. Als sie sich vor Tim und Lucky gestellt hatte, bereit sie zu beschützen und schließlich verletzt wurde. Wie der Mann sie erst für einen Jungen gehalten hatte. Im Nachhinein war sie den Hunden wirklich dankbar. Denn ohne ihre Beinverletzung hätten die Geschwister ihre Hunde nicht ausgeführt und sie hätten sie am Ende nicht begleitet, wo die vier sich langsam kennengelernt hatten. Außerdem hatten ja Julius, Richard und Anne ihren geliebten Tim gerettet.
Nie würde sie vergessen, wie sie die darauffolgenden Tage die Geschwister heimlich beobachtete hatte. Und wie sie am Ende Anne das Leben bewahrt hatte, war einer ihrer wichtigsten Erfahrungen gewesen.
Und der Moment, wo Julius ihr die Hand hingehalten und „Freunde?“ gefragt hatte, wo sie seine Hand ergriff und ihm zugestimmt hatte: „Freunde“, würde sie für immer und ewig im Gedächtnis behalten. Denn da hatte sie zum ersten Mal wahre Freunde gefunden.
Natürlich vergaß sie nicht, wie sie den Professor belauscht, den Schatz gefunden und wieder verloren hatte.
Sie erinnerte sich auch daran, wie sie von den Geschwistern im Stich gelassen wurde. Aber am Ende hatten die drei sie ja gesucht und sich verlaufen, bis George mit ihren drei Freunden, Tim, Lucky und Sammy, sie wieder gefunden und sicher nach Hause gebracht hatte.
Auch vergaß sie nicht, wie sie den Professor verfolgt und den Schatz wiedergefunden hatten. Und natürlich auch nicht, als sie Richard befreit und den Verbrechern das Handwerk gelegt hatte.
Aber der wohl traurigste Moment an dieser Geschichte war für sie gewesen, als sie Abschied nehmen musste. So schöne Ferien und so gute Freunde hatte sie noch nie gehabt. Und sie hatte sich geschworen, sie würde die drei niemals vergessen und diese hatten ihr versprochen, dass sie sie wieder besuchen würden.

George öffnete die Augen und gähnte verschlafen.
„Das war ein schöner Traum“, nuschelte sie müde.
Tim hob seinen Kopf und winselte leise.
„Ich hab von unserem Abenteuer geträumt“, erklärte das Mädchen und lächelte glücklich. „Ach wären sie doch nur jetzt hier. Dann hätte ich jemanden, mit dem ich reden könnte Mit Svenja und Mike geht’s ja jetzt nicht mehr…“
Sie dachte an die beiden. Mike und Svenja. Beinahe hatte sie geglaubt, die beiden könnten ihre Freunde wären. Aber jetzt. Jetzt war sie allein. Nicht mal mehr Svenja und Mike hatte sie hier. Denn die beiden verstanden sie nicht. Sie würden es nie verstehen. Aber wie sollte George die beiden verstehen, wenn die beiden sie nicht verstanden?!
Wie?
Und das war eine Frage, die George nicht lösen konnte. Zumindest jetzt noch nicht. Aber sie beschloss, den beiden nichts zu sagen und aus dem Weg zu gehen. Die beiden mussten zuerst einsehen, warum George ihnen das verschwiegen hatte. Dann würde George ihren Fehler zugeben. Denn sie hatte verstanden. Freunde log man nicht an.
Aber ich habe sie nicht mal angelogen, dachte sie. Die beiden haben nicht gefragt, was ich bin. Nur das sie dachten, ich wäre eine Junge, ist ja nicht meine Schuld, oder?!
George stand auf. „Sammy, komm, wir müssen zurück.“
Sammy hob den Kopf und trat gemächlichen Schrittes zu ihr. Er schnaubte und kaute auf den letzten Bissen saftiger Blüten. George schwang sich in den Sattel und trieb ihren Freund an. Tim und Lucky bellte zufrieden, denn sie hatten nicht weiter Lust, liegen zu bleiben, und rannten los.
George lächelte. Sie würde sich Luys Befehl wiedersetzen, sie konnte ihre beiden Freunde nicht in den Wagen sperren. Sie musste Luy beweisen, das Joy das mit Absicht getan hatte, um sie zu ärgern.
Sammy wechselte von alleine in den Galopp. Diese Gangart war leichter als der Trab. Und es machte ihm auch viel mehr Spaß, durch den Wald zu preschen.
George genoss die Zeit, wo sie noch nicht beim Zirkus war. Aber trotzdem freute sie sich, den Zirkus bald wieder zu erreichen. Sie wollte unbedingt mehr über den Zirkus erfahren. Besonders über die einzelnen Berufe.

Eine halbe Stunde später sah George den Zirkus schon von weitem. Die Wagen hatten sich auf einer Wiese in einem Kreis aufgestellt. Die Pferde und Elefanten waren zwar angebunden, hatten aber Zeit zu grasen, saufen und sich auszuruhen.
Außerdem sah das Mädchen, dass in der Mitte ein Feuer loderte und darauf köchelte eine Suppe. Plötzlich bekam George doch Hunger. Ihr Magen knurrte, Aber daraus wird wohl nichts, wiedersprach George. Ich bekomme doch erst mal Ärger…
Sie ritt mit Sammy im Schritt zu ihrem Wagen, in der Hoffnung, unbemerkt hineinschlüpfen zu können. Sie hatte beobachtete, dass Mike und Svenja auch am Feuer saßen. Und wollte diese Chance nutzen.
Leise band sie Sammy wieder an seinen Strick. Sie trenzte und sattelte ihn ab und brachte das Sattelzeug in den Wagen. Als sie herauskam nahm sie einen Eimer und besorgte Wasser bei einem Fluss, der in der Nähe entlang floss. Alles unbemerkt. Sie brachte den vollen Eimer Sammy und wollte wieder in dem Wagen verschwinden, da ertönte hinter ihr eine Stimme.
„Oh, hallo Georgina“, spottete jemand.
Das Mädchen fuhr erschrocken herum.
„Joy?“, fragte sie.
„Nope.“
„Joel?“, versuchte sie es erneut.
„Ja“, Joel grinste hämisch und rief ganz laut: „Luy, ich glaube, Georgina ist wieder da!“
George schnaubte.
„Du miese Ratte, du-“, knurrte sie.
„Georgina?“, fragte Luy und kam um den Wagen herum gelaufen.
Das Mädchen reagierte nicht. Das tat sie nie, wenn man sie Georgina nannte. Nie und die Geschwister hatten es selbst erst lernen müssen.
„Georgina!“, rief Luy nun empört. „Warum antwortest du mir nicht?!“
George reagierte immer noch nicht und begann sogar ganz frech zu pfeifen.
„Jetzt reicht’s aber!“, schnauzte Luy. „Dein Mittagessen ist gestrichen. Und du verbringst den Rest des Tages in deinem Wagen!“
„Mir doch egal“, blaffte George trotzig und verschwand im Wagen, ihre Hunde folgten ihr.
„Was ist das nur für ein Mädchen?“, fragte Luy kopfschüttelnd.
„Ein vorlautes, arrogantes-“, begann Joel mit einem diebischen Glitzern in den Augen aufzuzählen.
„Nanana. So fangen wir aber gar nicht erst an, Joel. Ab zum Lagerfeuer“, meinte Luy und scheuchte den Jungen wieder zu den anderen. Kurz sah er nochmal zu George’s Wagen, dann lief aber auch er zurück zum Feuer.

© by George28

Kommentare: 3 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    Hannes (Samstag, 12 Oktober 2013 08:24)

    Wie immer super geschrieben! Ich war beim lesen voll sauer auf Joel und Luy, weil sie Georgina gesagt haben.

  • #2

    George28 (Samstag, 12 Oktober 2013 14:01)

    Mit Absicht, George ist genauso wütend ^^

  • #3

    Hannes (Samstag, 12 Oktober 2013 19:42)

    Kann ich verstehen.